Wie Kinder denken lernen
Fasziniert beobachtet das Baby seine Füße. Spielerisch bewegt es die Zehen, berührt die Gliedmaße mit den Fingern. Während es lächelnd seine Fersen anschaut, arbeitet sein Gehirn auf Hochtouren.
Denn innerhalb unserer ersten Lebensjahre lernen wir fast ununterbrochen. Ohne dass sich das Baby anstrengen müsste oder sich des Lernvorganges bewusst ist, werden die einfließenden Informationen verarbeitet. Im Gehirn bilden sich dadurch neue Synapsen, also Verbindungen zwischen den Nervenzellen, die das spätere Denken komplexer und schneller machen.
Lange Zeit gaben die unglaublichen Lernleistungen in den ersten Lebensjahren Grund zur angeregter Forschungsarbeit. Heute weiß man, dass für bestimme Lernbereiche sogenannte „Zeitfenster“ existieren, während derer sich die Aufnahme spezifischer Informationen besonders schnell und effizient vollzieht.
„Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmer mehr" lautet ein bekanntes Sprichwort. Denkt man an die Lernfenster, erkennt man, dass sich dahinter Wahres verbirgt. Denn viele dieser Fenster liegen in den erste beiden Dutzend unserer Lebensjahre.
Was in dieser Zeit versäumt wird, kann später kaum oder nur mit Schwierigkeiten nachgeholt werden.
Zu den wichtigsten Entwicklungen der ersten beiden Dekaden zählt die der Sprache, die der sozialen Wahrnehmung und die des moralischen Denkens.
Dass derartige Zeitfenster existieren, wissen viele aus eigener Erfahrung. Denn gerade das Erlernen einer neuen Sprache fällt uns mit zunehmenden Alter zusehends schwerer. Die Fähigkeit, Sprachen zu erlernen, nimmt im Alter deutlich ab. Was Kindern scheinbar mühelos gelingt, bereitet Erwachsenen dann große Schwierigkeiten. In den ersten Lebensjahren verinnerlichen Kinder anscheinend mühelos Wörter und Grammatik, und das Erlernen der Muttersprache gelingt Kleinkindern im wahrsten Sinne des Wortes ‚spielend’:
Die ersten Laute des Nachwuchs hören die Eltern schon im ersten Lebensmonat:
Das Neugeborene ahmt selbstständig Gehörtes nach, wenn es sich in einer entspannten Situation befindet. Typischerweise zwei bis drei Monate nach ihrer Geburt beginnen Kinder zu „gurren". Die einzelnen Lautäußerungen werden komplexer. Im Alter von vier bis fünf Monaten setzt das sogenannte „kanonische Lallstadium" ein. Eigene Wortschöpfungen wie „dada" oder „lala" kennzeichnen diese Entwicklungsstufe. Schon mit zehn bis 14 Monaten kann das Neugeborene erste Worte artikulieren - zum Stolz der Eltern. Danach nehmen die sprachlichen Fähigkeiten rasant zu.
Im Alter von 18 Monaten beherrschen Kinder bereits durchschnittlich 50 Wörter. Diese 50-Wort-Grenze stellt eine entwicklungskritische Marke dar, da sie über die spätere Lernfähigkeit entscheidet. Werden zu diesem Zeitpunkt weniger als 50 Wörter beherrscht, gilt das Kind als „late talker" also „später Sprecher". Oft setzt sich die Retardation im weiteren Leben fort. Späte Sprecher haben in der Schule meist größere Probleme, den Stoff zu verinnerlichen. Die sprachliche Ausdrucksweise liegt unter dem Niveau ihrer Klassenkameraden.
Ist diese Grenze jedoch - wie im Normalfall mühelos - erreicht, wird der Rest ebenso schnell gelernt: Mit 16 Jahren besitzen Jugendliche in der Regel einen Wortschatz von 60.000 Wörtern.
Ein weiterer wichtiger Lernvorgang vollzieht sich ebenfalls innerhalb der ersten beiden Lebensjahrzehnte: Mit der sogenannten „Perspektivenkoordination" lernen Kinder, sich in andere Personen hinein zu versetzen. Diese Kompetenz, das Handeln anderer aus deren Sichtweise zu sehen, stellt eine entscheidende Fähigkeit des sozialen Umgangs dar.
Im Alter von vier bis neun Jahren wird Kindern die Subjektivität ihres Wahrnehmens bewusst.
Ab diesem Alter erkennen sie, dass Menschen unterschiedlich denken.
Dennoch sind sie noch nicht in der Lage, das eigene Handeln aus der Perspektive des Gegenübers zu sehen und zu bewerten. Diese Fähigkeit eines reflexiven Verständnisses erwerben Kinder erst im Alter von sechs bis zwölf Jahren.
Die kognitive Kompetenz der wechselseitigen Koordination wird im Alter von neun bis 15 Jahren erworben. Das bedeutet, die beiden Seiten können nun abwechselnd die eigene oder die Perspektive des anderen einnehmen und sind sich dieses Sachverhaltes bewusst. In diesem Zeitraum kann zudem die Position der Bezugsgruppe mental eingenommen und nachvollzogen werden.
Es liegt auf der Hand, dass dieses Verständnis für das Denken des Gegenübers essentiell für die moralische Entwicklung eines Kindes ist. Zwar vollzieht sich die Genese des ethischen Verständnisses zeitlebens, die grundlegenden Ansichten werden aber während der ersten Lebensjahre geprägt. Besonders erste Verlusterfahrungen formen das moralische Denken. Wird dem Kind im Kindergarten ein Spielzeug weggenommen, erfährt es das als Verlust. Doch die Fähigkeit, sich in die Lage anderer zu versetzen, lässt es begreifen, dass diese Erfahrung andere genauso verletzen würde, würde es selbst so handeln.
Diese Einsicht stellt einen der ersten Schritte der „Internalisierung" also der „Verinnerlichung“ eines stabilen Wertesystems dar, das für die Kinder logisch und nachvollziehbar ist.
Natürlich spielen Sie als Eltern bei der Entwicklung der moralischen Ansichten Ihres Kindes eine große Rolle. Als Vorbild zeigen Sie Ihrem Kind, welche Werte in der Gesellschaft gelten. Doch Einsicht in moralische Normen erreichen Sie nicht durch Verbote. Ihr Kind muss selbst die Notwendigkeit sozialer Regeln begreifen, um sie für sich annehmen zu können. Eigene Erfahrungen, wie das eben geschilderte Beispiel, verbunden mit Ihrem Agieren und Argumentieren als Vorbild, wird Ihrem Kind helfen, seine Rolle in der Gesellschaft zu finden.
Das selbe gilt für die Sozialisation des Kindes. Das Hineinwachsen in gesellschaftliche Normen wie „Man spricht nicht mit vollem Mund", lernt es, indem es die Eltern und die Umgebung beobachtet. Kinder, die in den ersten Lebensjahren fürsorglich erzogen und umsorgt werden, lernen schnell und sind als junge Erwachsene in der Regel selbstständig und selbstbewusst. Auch wenn der Psychoanalytiker Sigmund Freud in einigen Dingen irrte, hatte er doch in einem Recht: Die Kindheit entscheidet über das Glück des späteren Lebens. Die Lernfenster sind in den ersten Jahrzehnten weit geöffnet. Können sie genutzt werden, zeigen Kinder erstaunliche Lernleistungen und werden im Handumdrehen zu starken Persönlichkeiten.