Wie Kinder Schmerzen spüren
„Mama, ich habe Bauchweh“, jammert der Junge. Seine Mutter lächelt ihn mitfühlend an: „Selbst Schuld, wenn du soviel Süßigkeiten isst“, sagt sie – Ein alltägliches Szenario unter deutschen Dächern.
Bundesweit beschweren sich mehr als 2,5 Millionen Kinder über regelmäßige Bauchschmerzen. Natürlich kann das geschilderte Zwicken im Magen wirklich daran liegen, dass etwas Falsches gegessen wurde. Doch oft steckt mehr dahinter:
Denn Kinder projektieren vielfältige Schmerzerlebnisse auf den Bereich des Bauches. Ob der Kopf oder das Knie weh tut, geäußert werden häufig Beschwerden im Bauch.
Daher sollten Sie als Eltern in einem solchen Fall hellhörig werden. Oft verbergen sich hinter derartigen Äußerungen ernsthafte Erkrankungen. Ob Mittelohrentzündung oder Mumps, Kinder neigen dazu, den Bauch als Ort des Schmerzerlebens anzugeben. Denn die Darstellung ihrer Schmerzen müssen sie erst lernen.
Als Erwachsene wissen wir, dass Schmerzen vom Herzen ausgehend in den Arm strahlen, wenn ein Herzinfarkt das Leben bedroht, weil wir es irgendwo gehört oder gelesen haben.
Aber Kinder kennen weder Dermatome noch Nervenstränge. Sie können nicht zwischen den Begriffen „Magen“ und „Bauch“ unterscheiden, wissen nicht, welche Symptomatik mit Mumps oder Masern einher geht.
Daher sind sie auch oft nicht in der Lage, die Intensität ihrer Schmerzen zu schildern.
In ihrer Not denken sie sich Vergleiche aus: „Igel rennen durch den Bauch“ oder „Böse Geister hauen mit ihren Fäusten“ gegen den Kopf - Kinder beschreiben ihre Schmerzen plastisch.
In ihrer Fantasie werden sie zu Farben oder Formen. Schmerzen können rot oder grün sein, sich viereckig oder rund anfühlend, die inneren Organe oder die kleinen Knie malträtieren. Je nachdem, welcher Kultur Kinder angehören, fallen diese Beschreibungen unterschiedlich aus.
Daher ist es wichtig, ein offenes Ohr für kindliche Schmerzschilderungen zu entwickeln.
Dazu zählt auch, die Angst vor einer möglichen medizinischen Behandlung zu berücksichtigen. Denn Kinder leugnen ihre Schmerzen schnell, wenn sie Angst vor der Spritze beim Doktor haben. Die Furcht vor dem Besuch in der Praxis schüchtert sie ein und lässt ihre Beschreibungen harmloser werden.
Viele Eltern beobachten dann, dass Ihr Kind scheinbar spaßerfüllt spielt und denken, die Schmerzen seien eingebildet gewesen. Dabei stellt das Spiel oft nur eine besondere Form des Umgangs mit der körperlichen Warnung dar.
Es ist wichtig, auf die Schmerzbeschreibungen von Kindern besonders sanft und sensibel zu reagieren. Denn rund eine Million Kinder in Deutschland leiden unter chronischen Schmerzen.
Unerkannt von Müttern und Medizinern können sie sich alleine nicht helfen, können ihre Empfindungen nicht in die Sprache der Erwachsenen bringen.
An dieser Stelle sind Eltern und Ärzte gefragt, ihren kleinen Patienten zu helfen.
Doch die Erforschung des kindlichen Schmerzerlebens steckt noch in den Kinderschuhen.
Nur langsam merken Forscher und führende Pharmakonzerne, dass sich kleine Patienten nicht behandeln lassen, wie Erwachsene.
Und wenn Sie selbst Kinder haben, werden auch Sie wissen, wie schwierig es sein kann, mit den Berichten von „Bauchweh“ oder „Kopfdrücken“ umzugehen. Die Frage, ob Ihr Kind nur ihre Aufmerksamkeit will oder ernsthaft erkrankt ist, müssen Sie im Zweifelsfall allein entscheiden.
Zum Glück helfen jetzt erste, zaghafte Forschungsergebnisse, das Schmerzerleben von Kindern einzuschätzen.
Das sah vor einigen Jahren noch ganz anders aus: Noch bis vor einigen Jahrzehnten glaubte man sogar, Kinder seien kaum schmerzempfindlich. Fachleute erklärten, sie könnten weniger Pein als Erwachsene empfinden und begründeten diese absurde Annahme durch das Wachstum der Nervenzellen: Bei Verletzungen oder operativen Eingriffen, wie etwa der Beschneidung von Jungen, könnten die Kleinkinder keinen Schmerz empfinden, da ihre Nervenzellen noch nicht in die betroffenen Körperregionen gewachsen seien. Die dortigen Nervenenden verfügten daher noch über kein Schmerzempfinden.
Zum Glück weiß man heute, dass das Quatsch ist. In den letzten Jahren erkannte man, dass man Unrecht tat, wenn man Säuglinge mit geringer Betäubung auf den OP-Tisch legte.
Besonderes neuste Forschungsergebnisse zeigen, wie verkehrt die Schlussfolgerungen waren:
Denn auch wenn sich die Neurone in den ersten Lebensjahren erst entwickeln, sind Kleinkinder sogar schmerzempfindlicher als Erwachsene.
Bereits mit sechs Monaten besitzen Kinder ein konkretes Schmerzgedächtnis. Chronische Pein verinnerlichen sie dort ebenso, wie aktuelle Empfindungen über Prellungen oder Brüche von Knochen. Und diese verinnerlichten Empfindungen können Sie als Eltern nutzen, um Genaueres über die Beschwerden ihres Kindes zu erfahren: Sind Sie sich unsicher, ob es sich beim Bauchweh um etwas Ernstes oder wirklich bloß ein kleines Verdauungsproblem handelt, lassen Sie Ihr Kind seine Schmerzen malerisch darstellen.
Zeichnungen, die zum Beispiel das Einschlagen eines Hammers auf den Kopf darstellen, zeigen, dass die Schmerzen in Wirklichkeit nicht im Magen toben. Sie können sogar ein Zeichen sein, dass Ihr Kind unter chronischen Kopfschmerzen leidet. Denn viele Kinder sind davon betroffen. Und ohne eine angemessene Behandlung haben sie keine Chance, von diesen befreit zu werden.
Einfühlungsvermögen und Verständnis helfen am besten weiter, wenn Ihr Kind über Bauchschmerzen oder andere Pein klagt. Im Zweifelsfall sollten Sie den Rat Ihres Arztes oder Apothekers einholen.